Hi. Ich bin Marie. Ich führe ein ziemlich normales Leben, abgesehen davon, dass Karl Marx mit mir spricht. Marie, das Reich der Freiheit beginnt da, wo Arbeit aufhört. Versteht ihr, was ich meine? Schräger Typ, aber seine Ideen sind erstaunlich aktuell. Z.B. wenn es um Widerstand geht. Hey Marie, irgendwas beschäftigt dich doch, oder? Marx, seitdem wir uns unterhalten, seh ich die Dinge um mich herum ein wenig anders. Ausbeutung, Warenförmigkeit. Dazu das Gefühl, einer unfassbaren Macht ausgeliefert zu sein. Kann man denn nichts gegen Kapitalismus tun? Ich meine, jetzt sofort. (spricht mit der Stimme von Marx) Mit hitzigem Kopf und Ungeduld kommt man dem Kapitalismus nicht bei. Der ist flexibel und lernfähig. Das wusste ich damals allerdings noch nicht. Es ist schon möglich, direkten Widerstand zu leisten. Das hat die Occupy-Bewegung doch bewiesen. Die haben vor der New Yorker Börse ihre Zelte aufgeschlagen und während der Finanzkrise richtig für Aufsehen gesorgt. Maskierte Todesgestalten, die dann wie vom Blitz getroffen zu Boden fallen. Cooler Effekt. Das find ich gut. Und dann war auch alles wieder schnell vorbei. Occupy war ein Widerstand ohne eine Agenda und ohne eine Strategie. Ich bin eher für eine Theorie, die offenlegt, was der Kapitalismus ist und wie er sich entwickeln wird. Das ist dein Konzept für Widerstand? Zu Hause am Schreibtisch grübeln, während die Welt vor die Hunde geht? Nee danke. Ohne Theorie geht es nicht. Theorie als Widerstandsform? Daran glaubten vielleicht noch die 68er. Aber selbst die haben sich nicht auf die Theorie allein verlassen, sondern sind auf die Straße gegangen. (spricht mit der Stimme von Marx) Mein Zugang ist Analyse und Kritik, die das Falsche offenlegt, um das Bessere zu erzielen. Und wer soll das Bessere herbeiführen? Deine Arbeiterklasse? Die Arbeiterklasse spielte bei mir eher eine objektive Rolle. Mir schien es logisch, dass sie sich irgendwann von allein erhebt. Aber auch ich kann mich ja mal irren. Tja Herr Marx, aus deiner Arbeiterklasse ist längst eine Konsumentenklasse geworden. Dabei kommt es doch heute darauf an, unsere Rolle als Konsumenten infrage zu stellen und echten, aktiven Widerstand zu leisten. Soso, echter, aktiver Widerstand. Den Kapitalismus kann man aber nicht nur mit wildem Individualismus, Herzblut und Glaubwürdigkeit bekämpfen. Sag mir doch mal, warum du so ein Problem mit Authentizität und glaubwürdigem Widerstand hast. Davon lebten die großen Revolutionen doch schon immer. Und was steckt dahinter? Mit Emotionen und Effekten kann man viel Aufmerksamkeit für Widerstandsaktionen erzeugen. Aber genauso lassen sich damit auch Produkte vermarkten. Der Kapitalismus hat sich das schon längst zunutze gemacht und begriffen, dass man so Widerstand ersticken kann. Du meinst, dass uns der Kapitalismus mit unseren eigenen Waffen schlagen will? Der Kapitalismus ist schneller als seine wilden Gegner. Er macht alles zur Ware, auch deinen echten Widerstand. Denk an die Mode. Die Blue Jeans wurde von der Arbeiterkleidung zum Modetrend gemacht. Unsere Sehnsucht nach Echtheit und Ursprünglichkeit wirkt einfach verkaufsfördernd. Ach komm schon, Marx. Davon lässt sich doch nicht jeder um den Finger wickeln. Was ist denn mit den Jugendbewegungen der letzten Jahrzehnte? Mit deren Wunsch nach Veränderungen? Na, das find ich gut. Aber ich beobachte, dass sich jede Jugendbewegung von der vorherigen abgrenzen will. Ob nun die theorielastigen 68er oder die wilden Punks, am Ende werden alle Bewegungen kommerzialisiert. Aber du weißt auch, dass eine Gesellschaft in Starre verfällt, wenn ihre Jugend keine Impulse mehr für die Zukunft liefert. Hallo. (spricht mit der Stimme von Marx) Ich befürchte, dass der Kapitalismus mutiert, sich anpasst und euch einfach dort auffrisst, wo ihr ihn bekämpft. Vielleicht ist es heute wirklich schwerer als zu deiner Zeit. Aber auch wir entwickeln uns weiter und finden neue Möglichkeiten, um Widerstand zu leisten. Mal durch Theorie und mal durch spektakuläre Aktionen. Vielleicht hattest du doch recht, und der Kapitalismus schafft sich irgendwann von selbst ab. Aber bis dahin geh ich auf die Straße. Copyright WDR 2018