. Mit überzeugender Mehrheit... * Musik * Ostern 1968. (ruft) Mörder, ihr dreckigen Nazischweine. Die Revolte der "68er" ist auf ihrem Höhepunkt. Eine rebellische Jugend bricht mit den Traditionen. * Musik * Viele Eltern trauern den alten Zeiten nach. Wie schön war es doch, den Kindern früher bei der Tanzstunde zuzusehen. * Musik * Doch das ist nun vorbei. Aus braven Anzugträgern der frühen 60er-Jahre sind langhaarige Revoluzzer geworden. Eine Generation, die ihre Freiheiten ausleben will. Wenn ich einen Sohn hätte, der so rumlief, nicht Sie persönlich, wissen Sie, was ich mit den machen würde? Dem würd ich selbst die Haare schneiden. Und wenn ich eine Tochter hätte, die mit so einem Jungen ging, wissen Sie, was ich mit der machen würde? Die würd ich halb lahm schlagen. "Vor dem Haus Nr. 142 an dieser Stelle ist Rudi Dutschke niedergeschossen worden. Der 28-Jährige..." Am Gründonnerstag 1968 entlädt sich der Hass gegen die revoltierenden Studenten. In Berlin wird der Studentenführer Rudi Dutschke von einem Rechtsradikalen angeschossen. "Dutschke schleppte sich noch 30 m weit, ehe er blutüberströmt zusammenbrach." Noch am Abend des Attentats, das Rudi Dutschke nur knapp überlebt, finden in allen größeren Städten Schweigemärsche statt. Viele machen die Springer-Presse wegen ihrer studentenfeindlichen Schlagzeilen in der BILD-Zeitung für die Schüsse in Berlin verantwortlich. (Protestrufe) Mord an Dutschke, Springerpolitik. Mord an Dutschke, Springerpolitik. Mord an Dutschke, Springerpolitik. Ich bin dafür, dass Rudi Dutschke lebt. Das ist eine Schweinerei. Direkter Neofaschismus. Die BILD-Zeitung ist ein Verdummungsexemplar. Vor dem Springer- Verlagshaus in Essen versammeln sich wütende Demonstranten. Sie wollen, ähnlich wie in Berlin, Hamburg oder München, die Auslieferung der Zeitungen BILD und Welt verhindern. (Rufe) Als die Demonstranten von einer benachbarten Baustelle schwere Eisenträger herbei- schleppen und Barrikaden bauen, greift die Polizei zu harten Mitteln. Sie setzt Wasserwerfer ein. Dann gabs diesen Fall, wo der Wasserwerfer aufgefahren ist, der ist über einen drüber gefahren, bewusst. Und wir... Ist auch nichts passiert, weil die Dinger hochbeinig sind. Die Art und Weise, wie die Strahlen gesetzt wurden, der Wasserstrahl, das war lebensgefährdend von der andern Seite aus. Ich weiß, dass ich so einen Strahl in den Nacken gekriegt habe. Ich konnte dann schnell so machen. Es war aber jemand, der im Umfeld war, und den hat es voll erwischt. Der hatte hier den Wasserstrahl mit voller Wucht da drauf bekommen. Dann hatte der tagelang so eine Backe. Gegen Morgen gewinnt die Polizei die Oberhand. Und die Zeitungen können doch ausgeliefert werden. Die Aktion sorgt für Diskussion. Ich habe es nicht für richtig gehalten, die Springer-Häuser zu belagern, sie zu blockieren. Es hätte andere Formen der politischen Auseinandersetzung mit diesem Thema gegeben. Das ist der berühmte Punkt, wo ich sage: Ich reklamiere für mich die komplette Meinungsfreiheit. Muss ich sie dann nicht auch anderen zubilligen? Die Meinungsfreiheit ist ein Prinzip. Aber auch in unserem Grundgesetz gilt die nicht für Leute, die menschenfeindliche, rassistische und volksverhetzerische Parolen verbreiten. Doch '68, das ist nicht nur der Kampf um politische Freiheit. Auch zwischen Mann und Frau lockern sich die Sitten. Die Anti-Baby-Pille machts möglich. Aber für junge Frauen, die nicht verheiratet sind, ist sie gar nicht so leicht zu bekommen. In Bonn wirbt der Studentensprecher Jürgen Rosorius für das neue praktische Verhütungsmittel. Das ist eine altbekannte Tatsache, dass 90% der Studenten für die freie Liebe sind und diese auch praktizieren. Dann wurde im Bonner Studenten- Parlament ein Antrag gestellt: Man möge einen Aufruf machen, an die Bonner Ärzte, sich zu melden, wenn sie bereit sind, auch an unverheiratete Studentinnen die Anti-Baby-Pille zu verschreiben. Schnell kommt der Vorwurf, die junge Generation sei sexuell völlig verantwortungslos. Mit solchem Verfall der Sitten stehe für manche gar der Untergang des Abendlandes bevor. * Musik * Viele Eltern haben Angst, dass ihre Kinder nichts anderes mehr als Sex im Kopf haben. Manchen gehen insgeheim offensichtlich die Fantasien durch. Es war ja nicht so, dass man ständig über sich herfiel, in die Büsche krabbelte. Alle haben das geglaubt. Tante Frieda und Onkel Otto, die haben das geglaubt. Wenn Jugendliche die Pille nehmen, wird die Sexualität ausschweifen. Dann kann von Liebe keine Rede sein. Wohl alle bisher bekannten Methoden der Empfängnis-Regelung stören in irgendeiner Weise die Bekundung der Liebe. Zeigts den Herren im Bundeshaus, treibt den Herren den Notstand aus. Ein anderes Thema, das für Aufruhr sorgt, sind die geplanten Notstandsgesetze. Im Mai '68 machen sich 50.000 Gegner auf den Weg zu einer Großdemonstration nach Bonn. Die Notstandsgesetze sollen dem Staat die Möglichkeit geben, im Falle eines Krieges oder einer Naturkatastrophe elementare Rechte außer Kraft zu setzen. Die Diskussion über die Notstandsgesetze gehörte auch zu dem Futter, das wir hatten, um gegen die etablierten Parteien vorzugehen. Weil wir gesagt haben, ihr wollt da dem Staat Rechte geben, die irgendwann wieder zu dem führen könnten, was wir gerade im Dritten Reich erlebt haben. Die Gegner befürchten, dass durch diese Gesetze die Freiheit der Bürger zu stark eingeschränkt wird. Etwa das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis. Manche sehen sogar die Demokratie in Gefahr. Die Abschlusskundgebung im Bonner Hofgarten ist eine der größten Protest- Veranstaltungen der Nachkriegszeit. Derweil gehen auch in Paris die Studenten auf die Straße. Auch sie sind unzufrieden mit ihren Politikern. Hier sind die Auseinandersetzungen härter als in der Bundesrepublik. Es finden regelrechte Straßenschlachten statt. Die Unruhen ziehen auch viele junge Menschen aus Deutschland an. Sie sind fasziniert davon, dass in Paris Studenten und Arbeiter gemeinsam auf die Straße gehen. Plötzlich tauchen Gabelstapler auf. Da sind die mit Gabelstaplern gefahren, Palette drauf, die Pflastersteine drauf, und dann wurden Barrikaden gebaut. Ich dachte, das kann doch nicht sein. Das waren junge Arbeiter, die waren nicht organisiert. Die fanden das richtig, was die Studenten machen. Doch die deutsche Bevölkerung will mit den aufmüpfigen Studenten lieber nichts zu tun haben. Auch die Arbeiter nicht. Dabei hätten gerade sie Grund, auf die Straße zu gehen. Besonders im Ruhrgebiet sind viele durch das Zechensterben arbeitslos geworden. Vor den Werkstoren versuchen manche Studenten, die Arbeiter von ihren Idealen einer gerechteren Welt zu überzeugen. Meistens vergeblich. Da stand man ganz früh auf, schon das war schwierig für uns, vor der Frühschicht, 5 Uhr morgens, um 6 Uhr da sein. Teilweise im Winter, fror sich da die Hacken ab. Und stand da im Grunde wie Jehovas Zeugen und versuchte, sein Traktätchen an die Arbeiter zu bringen. Ein Großteil hat die Flugblätter angenommen. Wenn sie sie angenommen haben, sind sie im Müll gelandet. Was darin geschrieben war, war nicht nachvollziehbar. Wer durchs Tor geht, muss 8 h schwer arbeiten. Der hat nicht viel Zeit, sich damit auseinanderzusetzen. Der deutsche Arbeiter, der hatte im Kopf: Die Studenten schlafen bis Mittag, manchmal stimmte das ja auch, die haben reiche Eltern, die dürfen studieren, und wir müssen malochen. Da war keine große Sympathie, nicht von Seiten der Arbeiterklasse. Auch das private Leben ändert sich um 1968. Manche junge Menschen schließen sich zu Wohngemeinschaften zusammen. Eine völlig neue Form des Zusammenlebens. Das Private wird politisch, heißt die Parole. Wenn es schon in der Politik keine Revolution gibt, soll sie wenigstens zu Hause stattfinden. Das hatte wieder was zu tun mit unseren Familienerfahrungen, die uns sehr isoliert und abgeschlossen vorkamen. Wir wollten zu mehreren sein. Wir wollten anders leben. Auch das klassische Frauenbild der 50er-Jahre hat für die junge Generation ausgedient. Die Frauen nehmen sich jetzt mehr Freiheiten. Es sollte nie mehr so sein wie unsere Mütter, die sich nur nach dem Mann gerichtet haben. Nur alles getan haben, damit der Ernährer der Familie zufrieden ist und sich in allem nach dem gerichtet haben. Die eigene Mutter, so wollte man auf gar keinen Fall werden. In vielen Städten gründen junge Frauen Weiberräte, Frauengruppen und Arbeitskreise, in denen sie unter sich sind. Sie kämpfen für die Gleichberechtigung und geben eigene Zeitschriften heraus. Die deutsche Frauenbewegung wird geboren. Die Männer, auch die Studenten, sind irritiert. Dann haben wir eine Gruppe gegründet, die sich selber mit Marx und Engels beschäftigt hat. Ohne Männer, weil die Männer einem ja dann nur alles vorquatschen. Die Brisanz der Frauenfrage wurde nicht erkannt. Die war auch unbequem für die Männer. Und die sind ohnehin längst zerstritten und argumentieren immer öfter mit Fäusten, statt mit Worten. Was als großer gemeinsamer Aufbruch begann, endet im Konkurrenzkampf einzelner Splittergruppen. Da war die Bewegung tot, da war nichts mehr an Ausstrahlung. Nur noch Selbsterhaltung der eigenen Organisation gegen die andern und gegen den faschistischen Staat. Da war Ende, Sense. Ich frage den Abgeordneten Brandt, nehmen Sie die Wahl an? Ja, Herr Präsident, ich nehme die Wahl an. Im Oktober 1969 wird der Sozialdemokrat Willy Brandt zum Bundeskanzler gewählt. Durch ihn finden viele junge Menschen wieder Vertrauen in die Politik. Denn er scheint eine offenere Gesellschaft zu garantieren. Solche demokratische Ordnung braucht außerordentliche Geduld... Bei seiner Regierungserklärung spricht Willy Brandt den Satz aus, der programmatisch für einen neuen politischen Aufbruch steht. Wir wollen mehr Demokratie wagen. Die Demonstranten von '68 hoffen, dass ihre Forderungen jetzt von der Politik aufgegriffen werden. Doch manchen ist das immer noch zu wenig. Sie gehen in den Untergrund und werden versuchen, die Gesellschaft mit Gewalt zu verändern. Untertitel: WDR mediagroup digital GmbH im Auftrag des WDR Copyright WDR 2015